Mit „Die Nulllinie“ legt Szczepan Twardoch den ersten Roman über den Ukraine-Krieg vor. Gerade die detailreiche, schonungslose Beschreibung des Krieges macht das Buch interessant.
Eine Buchbesprechung von Karl Sternau
Es war Benedikt Kaiser, der mich auf den schlesischen Autor Twardoch hinwies. Ich las Anfang des Jahres sein damals neuestes Werk „Kälte“ und war begeistert. Umso gespannter griff ich nun zu „Die Nulllinie“, das am 15. April erschien und Twardochs erstes Werk ist, das sich mit der unmittelbaren Gegenwart beschäftigt.
Authentizität durch eigene Fronterfahrung
Dem Roman, der den Untertitel „Roman aus dem Krieg“ trägt, merkt man deutlich an, dass sein Autor an der Front war. Genaue Details über die (oft selbst bezahlte) Ausrüstung der Soldaten und die zahlreichen Anekdoten stammen aus gesehenen oder gehörten Erlebnissen, wie er in einem Interview erzählt. Twardoch verbrachte viel Zeit in den ukrainischen Schützengräben, ohne selbst Soldat zu sein. Er hat sich dennoch bewusst für die Form des Romans entschieden, um freier schreiben zu können. So konnte er problemlos Gehörtes verarbeiten.
Unterschiede zu früheren Kriegen
Das Buch zeigt trotz der teilweise fiktiven Geschichten die Unterschiede des Ukraine-Krieges zu den früheren Kriegen. Ich habe schon sehr viele Erinnerungen und Romane über Kriegserlebnisse, vor allem über die beiden Weltkriege, gelesen. Bei Twardochs Erzählung sieht der Leser zwei krasse „Neuerungen“ sehr gut dargestellt. Das ist zum einen die Kommunikation, die nicht mehr über Feldpost läuft, sondern teilweise (je nach Verfügbarkeit des Internets via Starlink) in Echtzeit möglich ist. Angehörige können so unmittelbare Informationen aus dem Kriegsgebiet erhalten. Zum anderen die neue Art des Tötens mit der Drohnentechnik. Auf einem Tablet kann so verfolgt werden, wie der feindliche Soldat nach Treffern leidet oder stirbt. Besonders perfide wird es, wenn man Schwerverwundete bewusst beobachtet, um ihre zu Hilfe eilenden Kameraden ebenfalls mit der Drohne angreifen zu können.
Faszinierender Stil des Buches
Während Twardoch in „Kälte“ überwiegend auf einen Tagebuchstil setzte, ist „Die Nulllinie“ in einem Monologstil geschrieben. In Rückblendungen erfährt der Leser nicht nur die Geschichte von Koń, der als Pole mit ukrainischen Wurzeln freiwillig dient, sondern auch die Erlebnisse seiner vielen Kameraden. Ihre Lebenswege an die „Nulllinie“, also an die aktuelle Hauptkampflinie zu den feindlichen Russen, stehen exemplarisch für die unterschiedliche Herkunft der zusammengewürfelten, ukrainischen Truppe.
Kein Heldenepos
Das Buch ist sehr spannend geschrieben und birgt ein überraschendes Ende. Obwohl Twardoch, wie er in Interviews offen zugibt, auf der ukrainischen Seite steht und die Russen als Bedrohung für Europa sieht, ist der Roman kein Propagandawerk. Er zeigt den Krieg aus der ukrainischen Perspektive nicht als Heldenkampf, sondern als das, was er ist: ein grausames und entmenschlichendes Erlebnis, das die Protagonisten nie mehr loslassen wird.
Der Roman kann unter anderem hier gekauft werden: https://www.jungeuropa.de/andere-verlage/schoene-literatur/499/die-nulllinie