Für die etablierten Parteien und Medien ging gestern ein Traum in Erfüllung: Endlich konnte der ukrainische Präsident Selenskyj auch Österreich mit einem Besuch beehren.
Ein Kommentar von Michael Scharfmüller
Bisher war ein solcher Staatsbesuch inklusive militärischer Ehren und rotem Teppich wohl aus wahltaktischen Gründen nicht möglich. Österreichs Einheitsparteien und ihre Medien wissen nämlich sehr genau, dass für viele Österreicher das Bekenntnis zur „immerwährenden Neutralität“ zum Teil ihrer kollektiven Identität geworden ist. Mit diesem Selbstbild eines neutralen Landes sind Bilder von einem Selenskyj, dem in Österreich der rote Teppich ausgerollt wird, nicht vereinbar.
Ein politischer Spagat
Die vielen Wahlkämpfe sind nun geschlagen. Deshalb müssen die Regierungsparteien jetzt weniger Rücksicht auf die Befindlichkeiten ihrer Wähler nehmen. Bisher mussten ÖVP und Co. beim Thema Ukraine immer einen Spagat hinlegen: Einerseits wollten sie auf internationalem Parkett nicht alleine in der Ecke stehen, wenn westliche Politiker sich gegenseitig für ihre Ukraine-Unterstützung feierten. Andererseits mussten sie daheim in Österreich erklären, weshalb das neutrale Österreich bedingungslos auf der Seite der Ukraine steht, Millionen an Steuergeldern Richtung Kiew sendet und gleichzeitig Russland sanktioniert.
Ein Produkt dieser politischen Verrenkungen war die Rede Selenskyjs am 30. März 2023. Diese wurde nur als Videobotschaft im Hohen Haus abgespielt, und zwar nicht während einer offiziellen Parlamentssitzung, sondern außerhalb der offiziellen Tagesordnung. Die FPÖ protestierte damals gegen diese Aktion und verließ den Saal. Zahlreiche SPÖ-Nationalratsabgeordnete blieben der Veranstaltung fern – freilich ohne Farbe zu bekennen.
Zeit ohne Wahlen bringt Regierung Narrenfreiheit
Auf solche Verrenkungen können ÖVP, SPÖ, NEOS, Grüne, Bundespräsident Van der Bellen und die dazugehörigen Medien jetzt verzichten. Die nächsten größeren Wahlen finden planmäßig nämlich erst in zwei Jahren statt: im Herbst 2027 in Oberösterreich und Tirol. Bis dahin genießt das Establishment in Österreich beinahe Narrenfreiheit.
Beruhigungspille für rote Wähler und Funktionäre
Trotz der langen Zeit ohne Wahlen dürfte zumindest Andreas Babler, Vizekanzler und SPÖ-Chef, etwas nervös sein. Er weiß, dass es auch unter seinen Abgeordneten und Funktionären Leute gibt, die mit der einseitigen Unterstützung der Ukraine keine Freude haben. Vermutlich hat er deshalb betont, dass sich Österreich mit dem Selenskyj-Besuch als neutraler Ort für Friedensgespräche in Stellung bringen wollte.
Naiv oder dumm
Für mich stellt sich daher die Frage, ob Babler tatsächlich so naiv ist oder ob er seine Wähler und Funktionäre für dumm hält. Jedem Menschen mit einem Rest von politischem Hausverstand muss wohl klar sein, dass man nicht als neutraler Staat wahrgenommen wird, wenn man sich bedingungslos auf die Seite einer Kriegspartei stellt und dieser auch noch den roten Teppich ausrollt, während man die andere Kriegspartei mit Sanktionen belegt.